von hamburg nach istanbul

abschiedhamburg, 15.10.2004
zwischen farce und saddam-altarberlin, 15./16.10.2004
floating downstream...
berlin, 16.10.2004
der schatten der geschichte
krakau, 18.10.2004
stadt des todes
auschwitz/oswiecim, 19.10.2004
krakau, eine landpartie
19.10.2004
snapshot
bratislava, 21.10.2004
a night out at the trafo
budapest, 23.10.2004
budapest - maniküre einer stadt
23.10.2004
sonntagmorgen in budapest
24.10.2004
die stadt badet
budapest, 24.10.2004
ein tag im zug
zwischen budapest und sibiu, 25.10.2004
reste einer parallelwelt
sibiu, 26.10.2004
sibiu H null/modell mit bäumen
26.10.2004
now that's what I call capitalism
bukarest, 27.10.2004
"big apple" im osten
bukarest, 28.10.2004
bosporus-express
istanbul, 30.10.2004
was ist reisen?
istanbul, 30.10.2004
ankunft
istanbul, 30.10.2004
groove is in the heart
istanbul, 30.10.2004



abschied
hamburg, 15.10.2004

17:30 h. es ist unglaublich. die phiestaner trudeln auf dem bahnsteig am dammtor-bahnhof ein. inmitten des lärms, des wochenendverkehrs stehen wir da zusammen, trinken noch mal astra, das der gute leon mitgebracht hat, hören "studio one ska". der saure kreist. die leute um uns herum gucken irritiert. wir stossen ein ums andere mal an und können es nicht glauben, dass wir uns erst in über fünf monaten wieder sehen. chartert ein flugzeug, einen phiesta-jet nach sansibar, denke ich. noch drei minuten, wir hören ein letztes mal "I want justice" von delroy wilson, all die gesichter. das ist phiesta.

dann rauscht der zug rein. schnell die ska-CD eingesteckt, die nehme ich doch mit, eine einzige CD, wer weiss, mit wem wir dabei freundschaft schliessen werden. noch mal den dode gedrückt, mir wird plötzlich ganz anders. dann steigen wir schnell ein, aber dieser abschied ist ganz anders als vor acht jahren vor meiner letzten grossen tour. damals war die zukunft nur ein nebel. diesmal habe ich ein zuhause, auf das ich mich jetzt schon freue: st. pauli und die phiestaner. die bande steht auf dem bahnsteig, wir schon im waggon, die tür geht zu, wir setzen uns in bewegung, anja und petra auch, sie laufen neben dem waggon her. ich sehe genau, dass anja erbsenaugen hat, aber woldo und ich erst mal! wir sind ganz mitgenommen von diesem rührenden  abschied. und klar ist: no sleep till pauli after kapstadt! -nbo


zwischen farce und saddam-altar
berlin, 15./16.10.2004

berlin meint es gut mit uns. vom zoo geht's zum senefelder platz und ein paar minuten später stehen wir in mr. walters appartement. ein appartment mit sehr viel platz, in dem ein plattes zebra auf dem boden liegt. so muss es sein, wir wollen ja schliesslich nach afrika. hightech und filmtrophäen um uns herum, wie angenehm angesichts des überbordenden retroquatsches im kollwitz-kiez. das viertel wird immer absurder. nicht nur thermopen-fenster und yucca-palmen in den kneipen - übelste verfrankfurtung des inneren ostens - nein jetzt werden auch noch mutwillig die 20er herbeizitiert. alles ist so kulturell und gediegen. wohnen hier nur geisteswissenschaftler? die kulturbrauerei, in der wir noch ins kino gehen, setzt dem ganzen die krone auf. vor sechs jahren war ich das letzte mal hier. und jetzt? ein übler berliner themenpark und gleichzeitig voll amerikanisiert mit all den neon-schriftzügen über den bareingängen. das ganze ist so steril. eine trauer.

gregor rettet den prenzlauer berg am nächsten abend, als er uns ins bassy auf der schönhauser allee führt. ja, das ist das richtige berlin. ein roher enger hinterhof, frühindustrielle fabrikatmosphäre mit schornstein und ziegelwand, am ende ein altar mit einem riesigen saddam-poster. in der mitte des kleinen hofes lodern flammen aus einer öltonne. eine schöne art und weise, vermeintlichen dämonen wie saddam das irrational böse zu nehmen, indem man sie einfach zum witz umfunktioniert. toller laden, das ist noch der spirit des früh-90er-berlin, nicht diese üble hauptstadt-retro-kult der gegenwart. berlin soll roh sein, roh bleiben, wenn es schön sein will. alles andere wird zur farce. -nbo


floating downstream...
berlin, 16.10.2004

hinter dem gendarmenmarkt befindet sich das floatcenter. eine schwäbische frohnatur par excellence bereitet uns dort auf die samadhi-tanks vor. das sind eine art meditationstanks, die john lilly in den 50ern für die US-Navy entwickelt hat. 300 kilo salz sind in 600 liter wasser gelöst. unmöglich, darin  unterzugehen. die tankkapsel beinhaltet sozusagen eine miniatur des toten meeres. sie sieht aus wie ein kleiner wal, lang und bucklig.

ich steige ein, lege mich ins wasser und lass den deckel runtergleiten. rotwarme dunkelheit umfängt mich. das salzwasser hat körpertemperatur. kein druck auf der haut, nirgends. schwerelosigkeit, fast. durch die ohren unter der wasseroberfläche dringen ab und zu ferne, gedämpfte geräusche. ich schwebe in meiner kapsel wie in einer anderen welt. back to the roots, als ob ich noch einmal dicht an meine zeit als fötus herankomme. körperloses bewusstsein, die reine existenz, vor meinen geschlossenen augen tanzen kaskaden aus blautönen, breiten sich aus, ziehen sich wieder zusammen. nur wenige konkrete bildert. totale ruhe, absoluter anti-stress. gar nichts. auch keine langeweile. eher eine art re-boot: dahintreiben, noch mal von vorne anfangen. noch mal aufbrechen. -nbo


der schatten der geschichte
krakau, 18.10.2004





wir steigen im stadtteil kazimierz ab. im cafe mlynek am plac wolnica, über dem wir wohnen, hängen neue bilder zum verkauf. sie erinnern mich in ihrer rohheit ein bisschen an die von karlos artstore in st. pauli. rund um den plac nowy reihen sich die neuen bars und cafes aneinander. aber die szene ist nicht für touristen angerichtet. hier trinkt das neue krakau.

die hochgelobte altstadt dagegen, durch die wir am nächsten tag streifen, ist mir zu hübsch, zu puppenstubenhaft. dass krakau "das münchen polens" sei, wie jemand vorher gesagt hatte, kann man durchaus so sehen. für mich aber kein kompliment. mir kommt es vor, als sei die stadt, die einmal hauptstadt polens war, von einem jahrhunderte währenden schlaf am rande der habsburger-monarchie erwacht und putze sich nun heraus. als wir die dietl-allee aus der altstadt kommend richtung kazimierz überqueren, wird es gleich grauer und grossstädtischer. strassen voller altbauten, die eher an friedrichshain oder das westliche lichtenberg erinnern.

schon stehen wir vor dem alten jüdischen friedhof am platz der szeroka-strasse. wir gehen in die synagoge, die daneben steht. ein altes paar beaufsichtigt streng die ankommenden touristen. ich fühle mich plötzlich nicht wohl in meiner haut. 65.000 juden haben bis zum zweiten weltkrieg und zum holocaust in kazimierz gelebt. beim anblick der gassen und fassaden fallen mir die "zimtläden" ein, jenes theaterstück anfang der 90er in berlin, in dem die untergegangene welt der osteuropäischen juden wie gespenster noch einmal lebendig wurde. nichts ausser ein paar schildern und zeichen an den hauswänden ist übrig geblieben, in kazimierz ebensowenig wie in anderen städten der region.

in einem dieser versuche, an die alte zeit anzuknüpfen, hatten wir am ersten abend gegessen. im restaurant "alef". am nachbartisch sassen vier alte, drei männer und eine frau. sie sprachen hebräisch. was der weisshaarige wohl 1943, 44 erlebt hat, fragte ich mich. die frau musterte uns zwischendurch mit einem blick, der sich nicht deuten liess. es war ja nicht zu überhören, wo wir herkommen. die geschichte holt einen immer wieder ein. morgen wird sie uns wohl eher wie ein nasses handtuch ins gesicht treffen, wenn wir nach auschwitz fahren. aber das muss sein. -nbo


stadt des todes
auschwitz/oswiecim, 19.10.2004





das wetter ist an diesem tag von einer gütigen ironie. die sonne scheint aus einem strahlend blauen herbsthimmel auf die reste der einstigen todesfabrik. nimmt ihnen den gröbsten schrecken. unzählige reisegruppen schieben sich durch die KZ-wege. japaner schiessen entspannt das obligatorische urlaubsbeweisfoto vor dem tor, über dem der spruch "arbeit macht frei" prangt. polnische schulklassen reissen draussen auf eine zigarettenlänge witze. das grauen liegt nicht einmal als schatten auf den gebäuden. die monstrosität des verbrechens ist kaum begreifbar. nur in den baracken, in denen berge von schuhen, koffern oder haaren der ermordeten für die nachwelt aufbewahrt sind, wird es in ansätzen sichtbar.

aber es verschlägt mir dennoch die sprache. gerade, weil ich aus deutschland komme. schweigend ist mir der ort erträglich, alle vernehmlichen deutschen worte kommen mir schlagartig unglaublich deplatziert vor. sie sind hier oft genug gefallen. sie starren mich in bürokratischer kälte aus den zahlreichen SS-schriftstücken an, die in den vitrinen ausgestellt sind. dass die schergen keinen klaren kopf gehabt hätten bei dem, was sie taten, lässt sich beim besten willen nicht sagen. da wurde "mitgedacht", was das zeug hält. einer ereiferte sich etwa, ob man das von den toten geraubte zahngold, das die wehrmachtsärzte nicht brauchten, nicht - gegen eine "quittung" - der reichsbank zuführen solle, wo es "sinnvoller" angelegt sei. akribische listen von häftlingen, trockene paragraphenhuberei, totenscheine voller lügen...

sicher habe ich vorher einiges darüber gelesen, habe auch "schindlers liste" gesehen. aber dies ist der ort des verbrechens selbst, nicht mehr von buchseiten oder kinoleinwänden auf distanz gehalten. hier ist auschwitz, das schwarze loch der deutschen und auch der europäischen geschichte.

drei kilometer weiter in auschwitz-birkenau, dem zweiten, später angelegten teil des KZ, weitet sich das ohnehin schon unfassbare noch einmal in seinen dimensionen. eine regelrechte stadt des todes öffnet sich kilometerweit hinter jenem tor, das wir so oft auf alten aufnahmen gesehen haben. von vielen baracken sind nur noch betonpfeiler übrig, ragen zahllos aus dem gras, das heute alles überwuchert. aber die nachmittagssonne lässt kein kopfkino zu. ich kann mir nicht vorstellen, wie hier 90.000 menschen eingepfercht in der maschinerie der vernichtung gelebt haben können.

erst später, als ich anna pawelczynskas buch "werte gegen gewalt. betrachtungen einer soziologin über auschwitz" (dt. 1994 erschienen) beginne, steigen erste bilder hoch. gerade die nüchternheit ihrer analyse, in der sie sich - bewusst, wie sie schreibt - ihrer eigenen auschwitz-erlebnisse enthält, überwältigt mich. mehr noch, beunruhigt mich. die zur floskel, zur politischen sonntagsrhetorik verkommene forderung "nie wieder auschwitz!" bekommt wieder kraft. orwells "1984" ist blass im vergleich zu ihrer beschreibung des KZ-systems.

mir kommt carl amerys bemerkenswertes buch "hitler als vorläufer" in den sinn. amery argumentiert, dass das eindimensionale terror-weltbild des nationalsozialismus möglicherweise nur ein erster testlauf für biopolitische apokalypsen des 21. jahrhunderts war, die durch globale umweltzerstörung, überbevölkerung und politische konflikte ausgelöst werden könnten. es sind kleinigkeiten wie jene porzellanisolatoren an den einst unter starkstrom stehenden stacheldrahtzäunen oder die schlichten betonpfeiler, die zeigen, dass es sich hierbei nicht um relikte einer fernen epoche handelt, sondern um das technisierte 20. jahrhundert. die gegenwart ist nicht weit entfernt. man vergisst das nach 60 jahren leicht.

das ausmass des vernichtungslagers mahnt aber auch: guantanamo oder der neue wall am westjordanland sind nicht auschwitz. die relation der gräuel verrutscht vielen heutzutage zu leicht, ja zu leichtfertig im ereifern über die weltpolitik. ein bild brennt sich mir an diesem nachmittag ein, dass mir eine gewisse erleichterung verschafft: es ist die wehende israel-flagge, die zwei israelische schulklassen über ihren köpfen halten. eine bestätigung gandhis, der einmal schrieb: „Es ist meine feste Überzeugung, dass nichts Dauerhaftes auf Gewalt aufgebaut werden kann.“ -nbo


Krakau, eine Landpartie
19.10.2004




Nachdem wir an unserem ersten Etappenziel Krakau einen Tag durch die illustren Strassen geschlendert sind, sitzen wir am Dienstag im Bus und schunkeln durch die Landschaft.

Der Himmel lacht, dörfliche Idylle ausserhalb des Stadtzentrums. Bettwäsche lüftet an Balkongittern, der Futtermais ist noch auf den Feldern, hier mal ein Zementwerk, ein Autofriedhof. Eine Gegend, die es ähnlich auch bei uns gibt. Alles ganz friedlich, polnischer Alltag. Und zum Land gehören die Leute und zu den Leuten die Geschichte...

Wir stehen auf dem Gelände von Auschwitz. "Oh," mag manch einer denken, "sie machen eine Betroffenheitstour. Vom Völkermord der Nazis über die Apartheid in Afrika bis zu den bösen Buren am Kap." Nein, tun wir nicht. Aber dort, wo uns die Geschichte eines Landes, die auch unsere eigene ist, anspringt, möchte ich nicht wegsehen. Ich könnte jetzt all die grausigen Eindrücke und Bilder zitieren, die jeder schon mal in Dokus gesehen hat. Aber das spare ich mir besser. Was mich allerdings viel mehr beschäftigt hat im positiven Sinne, ist die Tatsache, dass es weitergeht. Egal wie, aber es tut's. Keiner von den 1,5 Mio. Toten wird je wieder lebendig. Das einzige, was wird tun können, ist, uns hin und wieder daran zu erinnern. Damit diese schlimmen Greueltaten, zu denen der Mensch fähig ist, nie wieder passieren.

Und gerade, dass die Sonne lacht über den Baracken von Auschwitz macht das Ganze so grotesk. Aber so ist es eben, es geht weiter! Ähnlich müssen auch die Leute gedacht haben, die ihre Häuser direkt neben dem Gelände gabaut haben und deren Vorgärten jetzt Naht an Naht mit dem Stacheldrahtzaun sind. Zugegebenermassen nicht gerade der schönste Ausblick von Balkon. Das hätte ich mir dann doch verkniffen. nach Diktat verreist -dwo


snapshot
bratislava, 21.10.2004

20:00 Uhr, wir sitzen in einem Pub. Dunkles Holz bestimmt die Athmo. Vinyl hängt an den Wänden. Wer was auf sich hält, trägt nen Pferdeschwanz, Tiedemann hätte seine helle Freude. Trendglatzen gibts nicht. Direkt vor uns spielt eine Live-Band (zwei E-Gitarren, eine E-Bratsche) die üblichen Schmonzetten von Robbie Williams bis Guns`n roses. Natürlich alle drei Jungs mit Pferdeschwanz. Knutschende Pärchen, kichernde Bedienung. Weinseelige Stimmung. Die Musik wird ruppiger. Eine Agro-Version von Mrs. Robinson. Dann ein lokales Stück. Echt cool die Jungs, super Stimmen, die Bratsche gibt alles. Wir sind mittendrin. Lassen uns treiben. Keine Verpflichtungen, nur noch stoffwechseln. Was machen wir morgen? Wir werden sehen. Spätestens morgen werden wir es wissen! nach Diktat verreist -dwo

...slowakische heldengesänge, die gitarren rollen, die e-bratsche zuckt im stakkato, die rohirrim aus dem herrn der ringe scheinen auszureiten. liegt rohan etwa hier um die ecke? ritterliche pferdeschwänze überall, in der tat. bratislava geht gut ab. keine puppenstube, dafür ist die einkaufsstrasse zu oll. where the hell is bratislava, werden viele denken. kennt keine sau. nur 40 kilometer von wien die donau stromabwärts. von wegen osten. da will jemand den langen schatten von prag, der verklärten überstadt loswerden. keine ahnung, ob dieser staat dafür unabhängig werden musste. aber europa ist da. die leute hier sind entschlossen. B wie bratislava. muss man sich merken. -nbo


a night out at the trafo
budapest, 23.10.2004





am ende der raday utca, der kneipenstrasse am südende des zentrums, wird es weniger bunt und schlichter. dort liegt in einer seitenstrasse das "trafo", ein ehemaliges kino. hier kommen offensichtlich die nachtschwärmer zusammen, die mit gestyleten bars, pubs und bumsdiscos nichts am hut haben. die zahl der turnschuhe, knappen t-shirts und verwaschenen jeans nimmt schlagartig zu. es ist fast wie zuhause in st. pauli.

unten im keller ist ein club mit sofas wie im "grünen jäger" (pferdemarkt, st. pauli). in einem weissgekälkten raum daneben werden versuche ausgestellt, gelscheine in einen "anderen zustand zu transformieren". kurz, sie werden zerstört: mit schwefelsäure, edding-bemalung, speicheleinwirkung durch 10-minütiges kauen, eine maus oder haushaltsbleichmittel, und anschliessend werden sie in petrischalen dem publikum dargeboten. wunderbare idee.

der haupt-act des abends findet aber oben im alten kinosaal statt: SEX MOB aus new york werden von einem buntgemischten publikum erwartet, dass zuvor höflich eine ungarische free-jazz-combo über sich hat ergehen lassen. sex mob sind anders: nicht einfach ein jazz-quartett, sondern eine richtige BAND! besetzung: posaune, saxofon, kontrabass und schlagzeug. posaunist stephen bernstein erfüllt sofort die bühne. ein kurzer, energetischer new yorker, der über den boden federt beim gehen. haare kurzgeschoren im albert-camus-look. ein breites grinsen dazu, und dann brennen er und seine kumpane ein feuerwerk ab.

es ist jazz auf der höhe der zeit. keine standards aus der grossen vergangenheit stilsicher, aber kraftlos  wiedergegeben, auch kein akademisches free-jazz-gefrickel. nein, präzise und reduziert entfachen sie einen richtigen groove. der bassist, ernst und füllig, gibt einfache loops vor, die eher an hiphop-samples erinnern. wie ein fels in der brandung - so muss ein bassist sein - hält er kurs, während der drummer einsteigt. nun bernsteins kurze posaune, sehr akzentuiert. das saxofon antwortet, und zwischen beiden entwickelt sich ein musikalisches gespräch. dann ein heftiger ausbruch, eingeleitet von der unglaublichen kreativität des schlagzeugers. der typ sieht aus wie woody allen in jung und hager, aber er lacht öfter. und die band geht ab. wahnsinn. der klassiker "st. louis blüs" wird ebenso verwandelt wie "goldfinger" aus dem alten bond-film oder nirvanas "smells like teen spirit". das publikum tobt, als sie schliesslich abtreten.

fur die zugabe bittet bernstein den DJ an den plattenteller, der vorher die etwas unglücklich agierenden free-jazzer begleitet hatte. der mann hat nerven: legt hand ans vinyl und bringt die jazzer von sex mob zum staunen. die steigen auf den beat ein, und würden wir nicht alle auf unseren konzertstühlen hocken (es ist ja ein jazz-konzert - vorsicht, kultur), hätten wir alle sofort losgegroovet. bernstein - wie sein grosser namensvetter - dirigiert und treibt die band zu höchstleistungen. der woody-allen-drummer spielt gar auf seinem hocker, um seinem schlagzeug-set irgendwelche neuen töne zu entlocken.

dazwischen findet bernstein zeit für einen schnack. im berühmten gellert-bad habe er vor zehn jahren eine massage bekommen, die "almost homörotic" war. als er wieder im hotel ankam und sich dort einen porno ansah, habe dieser im gellert-bad im massageraum gespielt. so hat jeder seinen budapest-flash und das publikum schreit vor freude. so sanft und weich wie die gellert-massage geht's dann ins letzte stück, fast homörotisch eben. dann ist der sex mob von der bühne. der jazz ist doch noch nicht verloren. -nbo


Budapest - Maniküre einer Stadt
23.10.2004



Wie kann ein einzelner Kopf bloss so schwer sein. Mindestens ne gefühlte Kiste Bier trage ich auf meinen Schultern mit mir rum. Seit Tagen nun schon diese blöde Erkaltung, genau genommen seit Berlin. Wie ärgerlich. Alles wie in Watte.

Trotzdem fällt mir auf, wie sehr sich die Stadt seit meinem letzten Besuch vor acht Jahren gewandelt hat. Keine fliegenden Händler mehr auf den Brücken. Bestimmt sind einige von ihnen in die schicken Läden gezogen auf der zum Fluss liegenden Seite von Pest. Eine typische Einkaufsmeile wie man sie in vielen Grosssteadten findet. Geschniegelt und geleckt.

Die Stadt macht sich den Dreck unter den Nägeln weg. Wie schade, gerade das Unperfekte gab ihr diesen gewissen Charme. Das Paris des Ostens macht sich heute stadtfein. Man will sich sehen lassen können. Die Frauen mittleren Alters putzen sich raus. Wohlstand rund um die Hüften, von den Schultern bis zum Steissbein. Auf dem Kopf tragen sie ne Frisur á la Rosi Mittermaier, die gesamte Farbpalette, aufgeklebte Fingernägel, Puh-Parfum und natürlich ein Handy am Ohr. Die Innenstadt gibt Vollgas.

Budapest, die heutigen zwei Stadtteile sind so unterschiedlich, wie es unterschiedlicher nicht geht. Das museale Buda mit Burg und Kathedrale wirkt eher leblos, als wir auch noch ausgerechnet an einem Feiertag hinkommen. Hinter dem Hügel, wo der olle Gellert sein bronzenes Kreuz gen Himmel reckt tut sich herzlich wenig. Wohnstrassen und runtergekommene Plattenbauten. Auch die Haupteinkaufsstrasse wirkt irgendwie tot. Hier wird nicht gelebt, nur gewohnt. Zumindest heute. Ganz anders dagegen das quirlige Pest. Rund um den Calvin-Platz tümmelt sich die Jugend in den zahlreichen Kneipen und Cafés.

Nach achtstündiegenm Dauerlauf lassen wir uns bei einem Thai nieder. Mal Lust auf nix deftiges. Ich freue mich riesig auf meine Kokos-Suppe, als ich eine Schale Eintopf hingestellt kriege. Muss wohl ein Irrtum sein, sage ich dem Kellner. Aber nichts da. "It's not like in Thailand here, different.", klärt er mich auf. Ach so, ja nee, klar. Stimmt ja, so stands ja auch auf der Karte: 'Thai-Cocos Soup'. Was hatte ich auch erwartet, samesame but different, eben. Also dann doch wieder herzhaft. Na, egal.

Neben uns nehmen drei Puh-Rosis platz. Omi, Mutter und wohlgenahrte Tochter. Die beiden Frauen diesmal blondbehauptet, die Tochter ist noch nicht alt genug fürs Färben. Ganz Europa diskutiert sich wund über das   Nichtrauchen, aber während am Nebentisch die neuesten sitzen, kommt mir in den Sinn, die Restaurants neu zu unterteilen. Denn wem schmeckt schon ein Rind oder Huhn an Calvin Klein? Mir juckts schon wieder im Gehirn, wo ist eigentlich mein Taschentuch? nach Diktat verreist -dwo


sonntagmorgen in budapest
24.10.2004


ich geh die marmorstufen in dem alten wohnhaus in der rakozsi ut 27 runter, in dem wir abgestiegen sind. auf einem treppenabsatz führt eine tür auf einen balkon in den hinterhof. noch ist er grün zugewachsen. die luft feucht und frisch, der himmel leider immer noch bedeckt. aus irgendeiner wohnung plärrt abbas "honey, honey" herüber.

im cafe "randevu", ein paar meter vom hauseingang entfernt, ist noch nichts los. erst heult george michael, dann läuft türkischer pop und "murder on the dancefloor". der cappucino ist der bedienung beim mitwippen des beats zu dünn geraten. aber er ist unverzichtbar wie an jedem morgen. währenddessen schläft woldo noch oben ihre erkältung nieder.

ich schaue auf die strasse. pfützen eines nächtlichen regengusses stehen auf dem breiten bürgersteig, der ebenso wie die sechs spuren der rakoczi ut asphaltiert ist. das gibt ihm etwas schmuddeliges. man möchte nicht auf ihm flanieren. die menschen eilen vorbei...

...eine rothaarige 15-jährige mit langem schwarzem ledermantel und doc martens, in der hand eine plastiktüte; ein grauhaariger mittfünfziger, lang, mit schnurrbart, brille und hellem trenchcoat, typ arzt; ein alter mit wollener schirmmütze und abgetragenem anzug, auf dem rücken ein rucksack, in der hand eine art fototasche, an denen er schwer zu schleppen scheint, die augen sind halb geschlossen beim humpeln; ein ehepaar mit frischgekauften blumen, sie schaut noch mal auf die uhr, man ist verabredet; ein mittvierziger, der kraftvoll gelassen ausschreitet, braune lederjacke, braune cordhose, der kurze bart gepflegt; ein junges pärchen mit nicht ganz trendigen klamotten, er schaut angestrengt, sie hält seine hand und redet, leicht lächelnd; ein alter herr, jawohl ein herr, denn er trägt noch einen ausgehhut, den trenchcoat gegürtet, tappt er vornüber gebeugt mit unsicheren schritten, in der rechten hand hält er ein päckchen graupen oder so; ein paar mit kinderwagen, beide tragen jeans und po-lange schwarze lederjacke, diese stumpfen teile, die so teuer sind, ihre frisuren sind gepflegt, aber langweilig; nochmal werden blumen in papier vorbeigetragen...

wie sieht's auf der anderen strassenseite aus? im erdgeschoss der vergilbten, mächtigen altbauten befindet sich eine ladenzeile. die durchgezogene fensterfront erinnert noch ein wenig an vergangene tage im sozialismus: die auslage ist nicht eben gekonnt drapiert. um den sozialismus abzuschütteln, hat man offenbar zu knalligen folien gegriffen und discount-slogans auf die fenster geklebt. im "csibefarm" lacht uns gar eine riesige henne vom schaufenster an, deren stil zwischen brösels "werner" und den roadrunners von schweinchen dick liegt. schreien gelb und gross. ein laden mit taschen - drüber steht "fürdöszoba felszereles", oha, die ungarische sprache! - -, daneben uhren, ein weiterer mit komischen klamotten... seltsame haupstrasse, diese rakozsi ut, zwischen zentrum und hauptbahnhof. -nbo


die stadt badet
budapest, 24.10.2004

das soll ein badehaus sein? das szechenyi fürdö im stadtpark am ende des andrassy-boulevards erinnert eher an ein barockes stadtschloss. es ist einfach riesig. nur mit einer badehose in der jackentasche, ohne handtuch, betrete ich diesen palast der sauberkeit. leider alleine, denn woldo kann wegen ihrer erkältung nicht mit. ein bademeister empfängt mich, teilt mir eine alte kabine zu. als ich in badehose heraustrete, schliesst er hinter mir ab. welch ein luxus verglichen mit den plastikspinden in unseren stadtschwimmbädern.

vorsichtig betrete ich den ersten baderaum. schwefel liegt in der luft, eine note von kakao mischt sich in den geruch. die hohe kuppeldecke ist von einer patina aus jahrzehnten überzogen. in den becken trübes grünes wasser. es ist 38 grad warm, wie eine winterbadewanne. nach ein paar minuten wechsle ich ins dampfbad. die sicht reicht einen meter weit, der atem stockt augenblicklich in der brüllheissen schwüle. zwanzig menschen stehen in dieser feuchtwarmen hölle herum. ich muss nach vier minuten passen, meine lungen scheinen zu kochen.

ich verlasse das dampfbad durch eine andere tür und lande in einer langen halle mit einem ovalen pool zum abkühlen. die badenden lassen sich im künstlichen wirbel herumtreiben. wieder heraus, in den nächsten saal mit einem achteckigen becken. es ist ein labyrinth, durch das sich unmengen von badenden bewegen, dicke, dünne, kinder, greise, hübsche, hässliche, tätowierte, turtelnde, mit verwachsenen zehen, mit schönen füssen, europäer, asiaten. ein babylonisches sprachengewirr verhallt im schwefeldunst.

im weitläufigen innenhof warten noch grössere becken unter freiem himmel. am rand spielen alte männer, im warmen wasser stehend, schach. die schachbretter sind dicke plastikfolien mit quadraten, die sie auf ein mäuerchen gelegt haben. eine gruppe schaut zu, alle brüten über dem nächsten zug und schweigen. ich lass mich einen moment durch die wärme treiben, dann erkunde ich den anderen flügel dieses palastes, vorbei an weiteren pools, saunen, massageräumen und dampfbädern.

es ist ein kunstvoller mikrokosmos der sauberkeit - den budapest den türken verdankt, die hier im 16. und 17. jahrhundert das sagen hatten. währenddessen puderte sich der debile europäische adel und litt an krätze. vielleicht sollte man merkel, koch und konsorten mal einen besuch im szechenyi fürdö empfehlen, um im schwefelbad über das wesen europas nachzudenken, das
den türken angeblich so vollständig abgeht. -nbo


ein tag im zug
zwischen budapest und sibiu, 25.10.2004

budapest entlässt uns an einem grauen, feuchten herbsttag. auf gleis sieben des hauptbahnhofs fährt der IC nach bukarest ab: rumänische waggons, braun und angeschmuddelt. während wir über plattes land durch morgennebel fahren, gibt mein schwarzer kuli beim schreiben seinen dienst auf.

da ich die marotte habe, nur in schwarz in mein tagebuch zu schreiben, versuche ich, im zug einen schwarzen kuli aufzutreiben. ich will schlau sein und ihn gegen einen der leuchtend blauen gauloise-kulis tauschen, die uns uli zünkler zum bestechen äthiopischer grenzbeamter mitgegeben hat. der bebrillte kellner im speisewagen hat vielleicht einen, denke ich. ich steh also vor ihm und erkläre ihm meine marotte auf englisch. er versteht kein wort. nimmt meinen gauloise-kuli, kritzelt auf seine hand und siehe da, die tinte ist schwarz. wie peinlich. ich nehm ungläubig den kuli und kritzele nun in meine handfläche. kein zweifel - das teil schreibt schwarz. bin nie auf die idee gekommen, dass ein gauloise-kuli mit leuchtend blauem gehäuse nicht blau schreiben könnte. der speisewagen-mann sieht mich mit einem blick an, als ob er mich für irre hält. er schleudert mir noch ein ungarisches wort entgegen, und ich trete schnell den rückzug an.

an der rumänischen grenze ist erst einmal stillstand angesagt. es ist offensichtlich, dass die EU hier endet: ein heer von grenzbeamten und bahnpersonal entert den zug. der grenzbeamte macht den ersten stempel dieser reise in unseren pass, der zöllner fragt uns nach mitgeführten pistolen, geschenken und rumänischen lei (die währung dort), die schaffnerin redet rumänisch auf mich ein, auch dann noch, als ich auf englisch bekunde, nichts zu verstehen...

dann das wunder: hinter der stadt arad öffnet sich zum ersten mal nach 1700 bahnkilometern eine landschaft, die nicht einfach nur platt, sondern von saftig grünen hügelketten durchzogen ist, der herbst hat noch nicht begonnen, die luft ist warm, die durchs offene fenster hereinströmt. ich schau auf die uhr. noch eine halbe stunde bis deva, wo wir umsteigen müssen. letzte gelegenheit, ungarisches kleingeld im speisewagen loszuwerden.

ich pirsch mich hin, versuche, vom kellner unbemerkt, einen blick in die speisekarte zu werfen. der hält mich sowieso schon für bescheuert. aha. fritten für 300 forint (1,20 euro). ich geh zurück ins abteil, hole unseren blechteller. wieder zurück zum kellner, der inzwischen mit rumänen bier trinkt. ich bedeute ihm, die fritten in den teller hinein haben zu wollen. er verschwindet in seiner küche. dann passiert nichts mehr. ich schau nervös auf die uhr. noch 20 minuten. von wegen: die ausläufer von deva kommen in sicht. ich frag den dösenden schaffner, ob das deva sei. ja, sagt er.

was ist mit den fritten? ich stecke meinen kopf in die küche. der kellner sieht mich, ich versuch ihm zu erklären, dass ich die fritten jetzt sofort brauche. er winkt mich an den herd, auf dem in einem sieb im siedenden fett die fritten schlapp werden. sind die gut genug für dich, bedeutet er mir? der zug fährt in den bahnhof ein. er schüttet mir die fritten auf den blechteller. der zug hält. woldo ist mit dem gepack vier waggons entfernt. ich nehm den frittenteller in beide hände und drängle mich durch ein- und aussteigende. das geht nicht schnell genug. ich steig aus und renne den bahnsteig entlang bis zum ersten waggon hinter der lok, den frittentelle balancierend. woldo hat das gepäck in die tür geschafft. der schaffner pfeift. es ist furchtbar. noch die jacken aus dem abteil gegriffen, rausgesprungen, und der zug fährt ab.

dann atmen wir durch, lachen und essen auf dem bahnsteig erst mal unsere fritten. der bahnhof ist fürchterlich. er erfüllt alle klischees von südosteuropa: ich komm mir vor wie in "schwarze katze, weisser kater". autos, die schon seit jahrzehnten nicht mehr fahren dürften, bettelnde kinder mit schwarzen nackten füssen. wir trinken einen halben liter bier für 30 cent. in den rillen des bierglases aussen klebt schwarzer schmuddel. die frau an der bierausgabe lacht - lacht sie mich gar aus?

immerhin: die bank, in der ich geld tausche, hat jeden tag bis 18:30 uhr auf. nicht solche behördenzeiten wie unsere geldhäuser. nach dem bier gehen wir auf bahnsteig 3. kurz bevor unser zug kommt, fährt hier ein anderer ein. er fährt auch nicht weg, als unser zug kommt - auf gleis 2. was nun? wir greifen unser gepäck, in den zug auf gleis 3 rein, auf der anderen seite wieder raus, woldo schrammt sich das schienbein dabei an. in rumänien darf man gottseidank auf beiden seiten ein- und aussteigen. nicht so in unserem zug, so ein ultraneues teil von siemens, gegen den jeder deutsche IC abstinkt. hier gehen die türen nur auf einer seite auf. was ist hier los? wir hechten zwischen den zügen entlang, um unseren herum und dann sind wir endlich drin. bis sibiu passiert nichts mehr. wir sind da, nach 12 stunden. -nbo


Sibiu H null/Modell mit Bäumen
26.10.2004





Das ist es also, das sagenumwobene Transilvanien. Vom Turm in Hermannstadt schauen wir über ein wippendes Meer aus roten Schindeldächern, am Horizont die Bergkette der Karparten. Ein idyllisches kleines Örtchen, in dem sich gerade allerhand tut. Restaurierungsarbeiten an jeder Ecke, ganze Strassen aufgerissen. Auch der grosse Marktplatz soll bis 2007 neu gepflastert werden. Bis dahin wird geschuftet, was das Zeug hält. Und dann ist es soweit: Rumänien tritt der EU bei und Hermannstadt ist Kulturhauptstadt Europas. Mag man heute noch gar nicht glauben, denn bislang wirkt es eher wie ne Ritterburgen Stadt von Playmobil. Ein belebtes Rothenburg ob der Tauber mit erstaunlich vielen Jugendlichen, an denen sich Graf Dracula des nächtens gütlich tun kann. nach Diktat verresit -dwo


reste einer parallelwelt
sibiu, 26.10.2004

am bahnhofsgebäude steht "sibiu". aber jahrhunderte lang ist dies "hermannstadt" gewesen, die quasi-haupstadt von siebenbürgen. eine von zwei regionen auf der welt, wo man eine art deutscher "expatriat"-kultur findet (neben namibia). für deutsche ist es ja eher seltsam, in der ferne auf einheimische zeitungen in der eigenen sprache zu stossen (wie die "hermannstädter zeitung" oder die "allgemeine deutsche zeitung" aus bukarest), oder in geschäften von einheimischen immer wieder auf deutsch angesprochen zu werden.

wen's interessiert: hier ist die vorgeschichte. im 12. jahrhundert wurden vom könig von ungarn siedler aus dem rheinland in das land hinter dem wald (=transsilvanien) angeworben, die sich als bauern und handwerker niederliessen. sie unterstanden nur ihm und keinem fürsten oder adligen sonst, ziemlich einmalig im mittelalter. bis ins 19. jahrhundert ist dieses als "siebenbürgen" bezeichnete gebiet dann ein eigenes staatliches gebilde unter ungarischer krone gewesen, das drei "nationen" umfasste, ungarn, szekler und sachsen (obwohl es ja eigentlich rheinländer waren). 1557 beschloss der siebenbürger landtag als erste region in europa die gleichstellung von protestanten und katholiken - lange vor dem 30-jährigen krieg, als sich beide den kopf einschlugen, und noch länger,  bevor der "alte fritz" in preussen die religionsfreiheit gewährte. von wegen hinterwäldler...

als nach dem ersten weltkrieg die K.u.K.-monarchie zerfiel, entschieden sich die sachsen (ebenso wie banater und sathmarer schwaben) als erste nichtrumänische minderheit dafür, sich dem rumänischen staat anzuschliessen und diesen als den ihren zu begreifen. höchst bemerkenswert zu einer zeit, in der die deutschen "zuhause" längst vom nationalismus zerfressen waren. von wegen hinterwäldler...

die grosse abwanderung setzte im zuge des zweiten weltkrieges ein, denn in den 30er hatte dann auch der nationalsozialismus in siebenbürgen fuss gefasst, was rumänen und russen (als besatzungsmacht in rumänien) nicht vergassen. heute gibt es vielleicht noch 40.000 rumäniendeutsche von einst 800.000. doch die einstige deutsche parallelwelt ist noch nicht ganz verschwunden: wer die hermannstädter zeitung liest, findet berichte aus kronstadt, nicht brasov, aus klausenburg, neppendorf oder schässburg...

in der buchhandlung "friedrich schiller" in hermannstadt liegen gedichtbände von rumäniendeutschen aus, und die architektur erinnert eher ans alpenvorland als an süd(ost)europa. leute heissen hier immer noch klein, wagner oder wittstock mit nachnamen. inzwischen kommt deutsch sogar wieder in mode. wie uns toni aus potsdam, der im hermannstädter kulturamt ein praktikum macht, abends im art cafe erzählt, gebe es einen richtigen run auf deutschkurse. im hintergrund läuft dabei miles davis' "doo bop". nostalgie ist überflüssig: siebenbürgen war gestern, europa ist heute. -nbo

now that's what I call capitalism
bukarest, 27.10.2004


zum beeindruckenden zeugnis kapitalistischer produktivitätssteigerung in rumänien gerät uns die taxifahrt vom bukarester nordbahnhof zum hotel in der innenstadt. die frau von der rezeption hatte mich am telefon schon vor den "falschen" taxis gewarnt. "sie müssen unbedingt in ein gelbes taxi einsteigen und darauf achten, dass der taxameter eingeschaltet wird." gesagt, getan.

wir steigen zielstrebig ins erste gelbe taxi der langen reihe vorm bahnhof. der fahrer schaltet brav das taxameter an und heizt dann wie eine gesengte sau los. tja, und dann fängt das taxameter an zu spinnen: etwa im 5-minuten-takt tickt es sich zu immer absurderen preisen hoch. toller tip vom hotel, denke ich. als wir ankommen, stehen 400.000 lei auf der anzeige (etwa 10 euro). das ist etwa so, als ob wir vom dammtor nach st. pauli 70 euro bezahlt hätten. nach dem offiziellen kilometerpreis von 8.000 lei hätten das höchstens 50.000 lei werden können. ich steig aus und beäuge misstrauisch den wagen. 30.000 lei pro kilometer steht da in zahnfarbener schrift auf gelbem grund auf der tür, das kann man in der funzelbeleuchtung auf dem bahnhofsvorplatz ja auch gut lesen.

das dumme: das ganze ist kein beschiss. "seit der liberalisierung des taxigewerbes vor zwei jahren kann jeder so viel verlangen, wie er will, und trotzdem sein taxi in der offiziellen farbe gelb anmalen", klärt uns der hotelrezeptionist gelangweilt auf. nach zehn tagen haben wir also unser erstes "schwundgeld" zu beklagen.

aber irgendwie ist das doch auch beeindruckend. der taxityp verdient also acht bis zehn mal so viel pro zeit wie andere offizielle taxen. da kann er leicht verschmerzen, dass kein bukarester je bei ihm einsteigen wird. er arbeitet einfach effizienter als seine kollegen und hat mehr freizeit. 2007, wenn rumänien in die EU kommt, wird es uns zeigen, was ein aufschwung ist. und man muss nicht mal mehr länger arbeiten, wie uns unsere wirtschaftsvertreter seit monaten weismachen wollen. einfach mehr geld für wertarbeit verlangen. -nbo

PS: ich habe das taxi am übernächsten tag kurz vor unserer abfahrt nach istanbul wieder vor dem bahnhof gesehen und das "beweisfoto" oben gemacht. der taxifahrer kam sofort wütend raus und stellte mich zur rede. als ich noch wütender entgegnete, er habe uns vor zwei tagen abgezockt, ich erkenne sein gesicht wieder, drehte er sich abrupt um und verschwand zurück in sein taxi.


"Big apple" im Osten
bukarest, 28.10.2004





Hier wird nicht geschlendert, hier gehts zur Sache. Rastloses Treiben und wild pestender Verkehr in den Strassenzügen in Downtown. Nichts Gemütliches, geschweige denn Liebenswertes. Streunende Köter rivalisieren mit barfüssigen Strassenkinderm um Essbares. Diese Stadt ist tough und spröde, ein brodelnder brutaler Moloch. "Hast Du's hier geschafft, dann schaffst Du's überall.", um good old Frankie zu zitieren. Sozialistische Monumentalbauten, die die ehemalige Altstadt unter sich begraben neben Prunkbauten aus früheren Epochen.

Aus dem Himmelreich der Trinker, einer gigantischen Bierhalle mit hohen Gewölbedecken und Freskenmalereien wankt uns nachts ein Betrunkener entgegen, gepflegter Anzug, in jeder Hand ne Flasche. Nach einigen Lallungen kriegen wir mit, dass es sich um einen Russen handelt. Er will unbedingt mit uns anstossen. Während wir uns zuprosten lallt er auf uns ein. Zum Abschied werden wir geherzt und gedrückt, bekommen segnend seine Hand aufgelgt und ziehen mit der Falsche Wein von dannen, die er uns grosszügig überlassen hat.

Komischerweise haben wir ausgerechnet in dieser viertel Stunde das Erdbeben verpasst, wie wir am nächsten Morgen in der Zeitung lesen. Immerhin Stärke 6 auf der Richterskala. Nix gemerkt. Der Russe hat's wohl weggesegnet. nach Dikat verreist. -dwo


Bosporus-Express
Istanbul, 30.10.2004

14:00 Uhr, wir steigen in den Zug, der uns in sage und schreibe 20 Stunden nach Istanbul bringen soll, für eine Strecke von ungefähr Hamburg bis München. Unser Schlafwagen entpuppt sich als marodes Klappergestell. Na denn, gute Nacht! Schäbig und voll auf den Hund gekommen. Aber dass das noch zu steigern ist, weiss ich, als ich aufs Klo gehe. Uhbah! Eine bestialisch stinkende Kloake, der man die Spuren der Menschheit nur allzu deutlich ansieht. Aber was solls. Wer muss, der muss. Akrobatische Toilettenturnübungen, André Heller lässt grüssen. Männer habens da echt einfacher!

21:00 Uhr, Schlafen befohlen! Unsere "Betten" werden ausgeklappt. Neben uns im Abteil wird schon deutlich hörbar geschalfen, der Typ schnarcht wie nichts Gutes.

In stockfinsterer Nacht, um viertel vor zwei, wird wie wild an unserer Abteiltür gerüttelt. "Passports!". Ah, die Grenze Bulgarien-Türkei. Die Pässe werden gestempelt und nach ner guten Stunde nehmen wir erneut Fahrt auf. OK., weiterschlafen, so gut es geht bei dem Geklappere und Geschaukel.

Aber denkste! Wieder werden wir barsch wachgedroschen. "You have to go for visa!". Achso, also dann, Anziehen, raus auf den Bahnsteig, in die Schlage stellen und vom türkischen Grenzbeamten nen Stempel abholen. So, nun aber. Wieder ein ins Abteil, Klamotten aus. Der zweite Versuch einzuschlafen. Hah, weit gefehlt. Nach 40 minütigem Aufenthalt an der Grenzstation meinen die türkischen Grenzbeamten jetzt nochmal jeden auf seinen Stempel im Pass kontrollieren zu müssen. Verstehe das, wer wolle.

Dann endlich, aller guten Dinge sind drei, die letzten 5 Stunden bis Istanbul lassen sie uns dann doch ungestört schlafen, danke. Woher der Zug seinen gloreichen Namen hat, ist mir ehrlich gesagt völlig schleierhaft. nach Diktat verreist -dwo


was ist reisen?
istanbul, 30.10.2004


es ist halb vier nachts im bosporus-"express" zwischen bukarest und istanbul, und an schlaf ist nicht zu denken. nach anderthalb stunden pässe zeigen, vorm grenzschalter antreten, wieder pässe zeigen, dabei dem überdrehten gebrabbel zweier schlafloser rumäninnen lauschen, bin ich in diesem zustand nervöser, kraftloser schlaflosigkeit angekommen. einzig das bett des CFR-schlafwagens ist in ordnung, der rest eine farce: kein speisewagen für eine 20-stundenfahrt, die klos sind verdreckte latrinen, die kabinen mit ihren blindgeschrubbten fenstern und dem abgesprungenen furnier nur transportzellen.

das ist so ein augenblick, in dem einem die frage durch den kopf schiessen kann: warum machst du das eigentlich? ist es die perverse lust eines wohlstandseuropäers an komplikationen, chaos und schmuddel? "back to the roots" kann man solche touren wie im bosporus-express nicht nennen, denn jeder anfang des eisenbahnwesens war besser als das (und schlafwagen in indien sind luxus dagegen).

im grunde steckt darin die frage: warum reist man überhaupt? ja, was ist reisen? für mich ist die essenz des reisens immer die bewegung gewesen. eine permante bewegung durch fremde gegenden. das erfahren einer landschaft, im ursprünglichen sinne des wortes: "er-fahren". die permanente bewegung fordert dich heraus, mehr noch als das zurechtkommen mit einem fremden ort, an dem du dich gerade aufhältst.

die bewegung zwingt dir als reisendem ihren rhythmus auf, der sich aus der beschaffenheit des raumes ergibt: berge, flüsse, grenzen, politische komplikationen, schlechte infrastruktur, ernährung, krankheiten... es gibt keine möglichkeit zum rückzug mehr.

der reisende wird zur schnecke, schutzlos, mit nur einer tasche als gehäuse, das er überall mithinschleppt, um nicht ganz nackt zu sein. es ist eine erfahrung des reduziert-seins: plötzlich gibt es nur zwei hosen und ein paar t-shirts, aber siehe da, sie genügen. der ganze kleiderschrank zuhause ist nur notwendig, um von zeit zu zeit rollen in der gesellschaft zu spielen, rollen, die du spielen willst oder auch musst.

auf der reise hast du nur eine rolle, bis zum ende des stückes. du musst also wacher und auch schlagfertiger sein als zuhause, weil du dich hinter keine maske zurückziehen kannst. die kunst der reduktion ist also gleichzeitig gepaart mit einer schärfung der sinne. natürlich ist das ein prozess und kein zustand, der sich mit der abfahrt einschalten lässt.

nun könnte man einwenden, dass diese betrachtung ja nur vom reisenden ausgeht, nicht von der fremden kultur. kann man dieser in permanenter bewegung überhaupt gerecht werden? geht es hier nicht nur um einen egotrip? dieser einwand, den ich so oft gehört und mit manchen freunden diskutiert habe, erscheint mir wie eine bildungsbürgerliche heuchelei. wer reist, tut das immer zuerst aus seiner eigenen neugier, seiner abenteuerlust heraus, wie kulturbeflissen dieser drang auch verbrämt sein mag.

die entscheidung des reisenden, fortzugehen und neues zu entdecken, steht immer anfang, nicht das ziel. wir reisen, weil wir lust dazu haben und nicht, weil wir eine "interkulturelle" pflicht erfüllen wollen (ja, auch hier der immer wiederkehrende, sehr deutsche gegensatz von lust und pflicht, den schon schiller so schön verspottet hat).

der zweite trugschluss ist meines erachtens der glaube, dass man einer fremden kultur überhaupt je gerecht werden kann, wenn man nur den bewegungsradius klein hält, sie sozusagen von einem ort aus langsam in kreisbewegungen entdeckt  - das ist schon in der eigenen kultur unmöglich. da möchte ich doch wirklich gerne mal wissen, wer glaubt, dieses gebilde "deutschland" halbwegs erfasst zu haben. ich habe im ruhrgebiet, in hessen, berlin und hamburg jahre meines lebens zugebracht, aber verstehe ich deshalb das leben in sachsen oder baden? da mag ein engländer oder spanier, der einige zeit dort zugebracht hat, mehr drüber wissen.

es gibt noch eine wichtige unterscheidung: reisen ist nicht urlaub. urlaub ist ver-reisen, aber in dem zwiespältigen wortsinn, den die vorsilbe "ver" im deutschen ausdrückt, wie in verfallen oder verlaufen. urlaub ist, wenn überhaupt, die kunst der entspannung. aber letztlich  ist er nur dem effizienzwahn des modernen kapitalistischen arbeitslebens geschuldet, das keinen müssiggang im alltag mehr duldet.

reisen im sinne einer permanenten bewegung durch die fremde hat mit diesem reparaturverhalten nichts zu tun. es handelt sich um eine eigene seinsweise, den letzten rest des nomadentums, der einem westler im 20. oder 21. jahrhundert noch möglich ist. indem der reisende sich durch viele kulturen hindurchbewegt, kann er aber ausgerechnet das hypermoderne "global village" in seiner ganzen verwirrenden komplexität und vielfalt am ehesten wahrnehmen.

die künstliche klarheit einer "national"kultur hingegen, die der bildungsreisende erkundet, wenn er bewusst nur in ein fremdes land fährt, kann sich in ein gift verwandeln, das die köpfe vernebelt, die menschen in einer trügerischen sicherheit des verstehens wiegt und am ende doch betrügt. urlaub, bildungsreise und das nomadische reisen sind drei arten, sich in die ferne zu begeben. eine existenzielle erfahrung ist nur das nomadische reisen. die wünsche ich jedem wenigstens einmal im leben. -nbo


Ankunft
istanbul, 30.10.2004





Endlich! Das Meer, Sonne, echte warme Sonne! Jetzt ist es da, das Urlaubsgefühl. Istanbul, eine Stadt, die man mit einem Satz überhaupt nicht beschreiben kann. Die Wäsche trocknet auf der Terrasse vor unserem Hotelzimmer in einer Seitenstrasse der belebten Istiklal. Im sechsten Stock, mit Terrasse. Wie zu Hause! Voll der Luxus und das für schlappe 40 Euro. Auf der Preisliste an der Hotelrezeption standen 100 Dollar für das Zimmer. Keine Ahnung, wie ich das am Telefon gemacht habe, an meinem zarten Stimmchen kann bestimmt nicht gelegen haben. Das war bestimmt die Aishe in mir, türkischer Basar eben. Unten zieht ne Horde jubelnder Fussballfans vorbei. Rufen sie "Pauli, Pauli"? Nein, bestimmt nicht. Vielleicht werde ich es wissen, wenn es in fünf Tagen weitergeht. Aber erstmal ankommen! nach Diktat verreist -dwo


groove is in the heart
istanbul, 30.10.2004

samstagabend in beyoglu. menschenmassen schieben sich durch die altbauschlucht der istiklal caddesi, vorbei an unzähligen cafes, bars, buch- und CD-läden. in den seitenstrassen wird an kleinen tischen gegessen. alle paar meter ertönt ein neuer beat und wird gleich vom nächsten überlagert. wir steigen in einem alten treppenhaus ein paar stockwerke hoch und landen in der baraka-bar.

der DJ steht vor seinem CD-regal und greift zum nächsten hit. red hot chili peppers, dandy warhols, manu chao, deee-lite... der junge spielt gute musik. alle paar minuten kommen neue leute rein, viele gehen freudestrahlend zu seinem kleinem verschlag, begrüssen ihn (freut mich besonders für ihn). trainingsjacken, baseballkappen, gestiefelte frauen, dreadlocks, touristen, das ganze spektrum ist da. und während ich mit woldo auf einem sofa begeistert bei bier und raki sitzgroove, denke ich, dass ich mich in den vergangenen zwei wochen nirgendwo so zuhause gefühlt habe wie in beyoglu, dem "neuen" teil istanbuls (der hälfte nördlich des goldenen horns, einer langen bucht. tatsächlich ist dieses neu-istanbul auch schon mindestens 800 jahre alt). dasselbe volk wie bei uns, und alles so relaxed, keine genervten oder aggressiven gesichter wie etwa in bukarest.

von st. pauli oder ottensen nach istanbul ist es ein katzensprung im geiste. mag sein, dass beyoglu nicht istanbul und istanbul nicht die türkei ist, genausowenig wie new york die USA repräsentiert. aber es ist AUCH die türkei, über die in den letzten wochen sich die journalisten und politiker der republik so ereifert haben.

gestern war der 81. jahrestag der türkischen republik, doch premierminister und aussenminister waren zum ersten mal an diesem höchsten staatsfeiertag nicht auf heimischem boden - sondern in rom, wo die regierungschefs der EU und ihrer anwärter die EU-verfassung unterzeichneten. die türkischen zeitungen haben viel drüber geschrieben (wie in der presseschau der "turkish daily news" zu lesen). die grossen tageszeitungen haben diesen patriotischen lapsus wohlwollend kommentiert.

die türkei ist im aufbruch. mag istanbul auch die avantgarde sein, die richtung stimmt. beim zweiten raki - der DJ ist zu hiphop und latin beats übergegangen - habe ich die politik hinter mir gelassen. meine gedanken kreisen um st. pauli, phiesta und die bar centrale. hier in beyoglu sind sie besonders nah. nennt es den spirit des global village - für mich ist das an diesem abend ein zeichen dafür, dass es nach 9/11 noch eine maxime ausser "war on terror" und al qaidas freudlosem djihad gibt. sie lautet: "groove is in the heart." -nbo


nächste etappe: von istanbul nach dahab (ägypten)
chronik

etappen
hamburg – istanbul
istanbul – dahab
dahab – wadi halfa
wadi halfa – addis
addis – nairobi
nairobi – nungwi
nungwi – kyela
kyela – tofo
tofo – kapstadt

gedanken
was ist reisen?
verschiedenes

länder
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