was ist reisen?
#1, istanbul, 30.10.2004
#2, addis, 20.12.2004
#3, tofo, 23.2.2005
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was ist reisen?
istanbul, 30.10.2004
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es ist halb vier nachts im bosporus-"express" zwischen bukarest und istanbul, und an schlaf ist nicht zu denken. nach anderthalb stunden pässe zeigen, vorm grenzschalter antreten, wieder pässe zeigen, dabei dem überdrehten gebrabbel zweier schlafloser rumäninnen lauschen, bin ich in diesem zustand nervöser, kraftloser schlaflosigkeit angekommen. einzig das bett des CFR-schlafwagens ist in ordnung, der rest eine farce: kein speisewagen für eine 20-stundenfahrt, die klos sind verdreckte latrinen, die kabinen mit ihren blindgeschrubbten fenstern und dem abgesprungenen furnier nur transportzellen.
das ist so ein augenblick, in dem einem die frage durch den kopf schiessen kann: warum machst du das eigentlich? ist es die perverse lust eines wohlstandseuropäers an komplikationen, chaos und schmuddel? "back to the roots" kann man solche touren wie im bosporus-express nicht nennen, denn jeder anfang des eisenbahnwesens war besser als das (und schlafwagen in indien sind luxus dagegen).
im grunde steckt darin die frage: warum reist man überhaupt? ja, was ist reisen? für mich ist die essenz des reisens immer die bewegung gewesen. eine permante bewegung durch fremde gegenden. das erfahren einer landschaft, im ursprünglichen sinne des wortes: "er-fahren". die permanente bewegung fordert dich heraus, mehr noch als das zurechtkommen mit einem fremden ort, an dem du dich gerade aufhältst.
die bewegung zwingt dir als reisendem ihren rhythmus auf, der sich aus der beschaffenheit des raumes ergibt: berge, flüsse, grenzen, politische komplikationen, schlechte infrastruktur, ernährung, krankheiten... es gibt keine möglichkeit zum rückzug mehr.
der reisende wird zur schnecke, schutzlos, mit nur einer tasche als gehäuse, das er überall mithinschleppt, um nicht ganz nackt zu sein. es ist eine erfahrung des reduziert-seins: plötzlich gibt es nur zwei hosen und ein paar t-shirts, aber siehe da, sie genügen. der ganze kleiderschrank zuhause ist nur notwendig, um von zeit zu zeit rollen in der gesellschaft zu spielen, rollen, die du spielen willst oder auch musst.
auf der reise hast du nur eine rolle, bis zum ende des stückes. du musst also wacher und auch schlagfertiger sein als zuhause, weil du dich hinter keine maske zurückziehen kannst. die kunst der reduktion ist also gleichzeitig gepaart mit einer schärfung der sinne. natürlich ist das ein prozess und kein zustand, der sich mit der abfahrt einschalten lässt.
nun könnte man einwenden, dass diese betrachtung ja nur vom reisenden ausgeht, nicht von der fremden kultur. kann man dieser in permanenter bewegung überhaupt gerecht werden? geht es hier nicht nur um einen egotrip? dieser einwand, den ich so oft gehört und mit manchen freunden diskutiert habe, erscheint mir wie eine bildungsbürgerliche heuchelei. wer reist, tut das immer zuerst aus seiner eigenen neugier, seiner abenteuerlust heraus, wie kulturbeflissen dieser drang auch verbrämt sein mag.
die entscheidung des reisenden, fortzugehen und neues zu entdecken, steht immer anfang, nicht das ziel. wir reisen, weil wir lust dazu haben und nicht, weil wir eine "interkulturelle" pflicht erfüllen wollen (ja, auch hier der immer wiederkehrende, sehr deutsche gegensatz von lust und pflicht, den schon schiller so schön verspottet hat).
der zweite trugschluss ist meines erachtens der glaube, dass man einer fremden kultur überhaupt je gerecht werden kann, wenn man nur den bewegungsradius klein hält, sie sozusagen von einem ort aus langsam in kreisbewegungen entdeckt - das ist schon in der eigenen kultur unmöglich. da möchte ich doch wirklich gerne mal wissen, wer glaubt, dieses gebilde "deutschland" halbwegs erfasst zu haben. ich habe im ruhrgebiet, in hessen, berlin und hamburg jahre meines lebens zugebracht, aber verstehe ich deshalb das leben in sachsen oder baden? da mag ein engländer oder spanier, der einige zeit dort zugebracht hat, mehr drüber wissen.
es gibt noch eine wichtige unterscheidung: reisen ist nicht urlaub. urlaub ist ver-reisen, aber in dem zwiespältigen wortsinn, den die vorsilbe "ver" im deutschen ausdrückt, wie in verfallen oder verlaufen. urlaub ist, wenn überhaupt, die kunst der entspannung. aber letztlich ist er nur dem effizienzwahn des modernen kapitalistischen arbeitslebens geschuldet, das keinen müssiggang im alltag mehr duldet.
reisen im sinne einer permanenten bewegung durch die fremde hat mit diesem reparaturverhalten nichts zu tun. es handelt sich um eine eigene seinsweise, den letzten rest des nomadentums, der einem westler im 20. oder 21. jahrhundert noch möglich ist. indem der reisende sich durch viele kulturen hindurchbewegt, kann er aber ausgerechnet das hypermoderne "global village" in seiner ganzen verwirrenden komplexität und vielfalt am ehesten wahrnehmen.
die künstliche klarheit einer "national"kultur hingegen, die der bildungsreisende erkundet, wenn er bewusst nur in ein fremdes land fährt, kann sich in ein gift verwandeln, das die köpfe vernebelt, die menschen in einer trügerischen sicherheit des verstehens wiegt und am ende doch betrügt. urlaub, bildungsreise und das nomadische reisen sind drei arten, sich in die ferne zu begeben. eine existenzielle erfahrung ist nur das nomadische reisen. die wünsche ich jedem wenigstens einmal im leben. -nbo
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was ist reisen? #2
addis, 20.12.2004
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reisen ist ein full-time-job. du kommst an einem neuen ort an und musst erst mal ein bett finden. wehrst hotelschlepper ab, die dich wie fliegen umkreisen, wenn du aus dem bus steigst. begutachtest ein zimmer hier, ein bad dort. dan eine entscheidung. durchatmen. dringend etwas trinken. ständig brennt die sonne und trocknet dich aus. oder verkleben autoabgase deine lungen. du zwingst dich, wenigstens deine 1,5-liter-flasche wasser am tag zu trinken, obwohl dir die laue brühe schon lange zum hals raushängt.
OK, gehen wir mal vor die tür. sofort bist du wieder von glücksrittern umzingelt, meistens um die 20 jahre alt. can I help you? you make tour? where you from? zu viele fragen, auf die du nicht antworten willst oder kannst. du gehst die strasse runter und spürst den schatten, der dir folgt. "mister", "hello", "my friend" wispert es permanent aus türnischen und läden. ein "good price" verfolgt dich unablässig, denn bist du etwa nicht zum hardcore-shoppen in dieses land gekommen?
du willst dir etwas angucken und hast keine lust laufen, weil es zu heiss ist oder der das mister-geflüster auf die nerven geht. ein taxi, ein rikscha, ein tuktuk muss her. du nennst dein ziel, und der fahrer antwortet dir mit einem phantasiepreis. dann folgt das ewige gefeilsche. nach einem kurzen wortwechsel steigst du achselzuckend ein. am ziel schaust du dir etwas an, was dir fremd ist, was du nicht verstehst. blätterst in deinem handbuch, in dem nie genug steht, um deinen wissensdurst zu stillen. vielleicht nimmst du einen guide, der dir auch wieder nur die basics herunterleiert. deine nachfragen versteht er nicht richtig.
mit bildern und fragen im kopf ziehst du weiter. setzt dich irgendwohin, um einen kaffee, einen tee zu trinken, eine zigarette zu rauchen. aus dem hintergrund schwappt schon wieder ein schwall von fragen herüber. kinder kommen vorbei und wollen dir kleinkram verkaufen, den du nicht brauchst. jede minute eins.
irgendwann wird es dunkel, zeit etwas zu essen. du checkst strassenstände, restaurants, vergleichst sie vielleicht mit einem tip aus deinem handbuch. dein abendessen ist entweder ein gericht, das du noch im leben gesehen oder schon die ganze woche gegessen hast, weil die lokale speisekarte ziemlich kurz ist. 5 tage mensaf in jordanien, 5 tage hühnchen und fuul in ägypten, 5 tage kebap im sudan, 5 tage kitfo oder tibs in äthiopien.
OK, ich übertreibe ein wenig. im nahen osten oder asien kommt ein anderes problem hinzu. diese trostlose getränkekultur. wasser, cola, tee oder bier. cola ist dir auf die dauer zu süss. tee, davon reichen vier tassen am tag wirklich. das zweite bier am abend schmeckt auch schon fad (ein königreich für ein frischgezapftes jever). ein guter wein? apfelsaft? apfelschorle? ein toller cappucino? mineralwasser mit kohlensäure? Matelimo? ach ja.
mit schwirrendem kopf sinkst du in einen unruhigen schlaf, der mitten in der nacht - so kommt es dir vor - unterbrochen wird. der müzzin ruft, die ersten trucks donnern hinter der einfachverglasten scheibe dahin, eine hühnerarmada gackert und kräht. du drehst dich um und erhaschst noch mal zwei stunden schlaf.
dann das nächste problem: was frühstücken? im nahen osten oder in afrika gibt es immerhin hervorragenden kaffee. aber das essen? schon morgens saubohnen (fuul) wie in ägypten? nudelsuppe wie in asien? firfir wie in äthiopien? oder das 43. traveller-omelett, das für "den" westler überall auf der welt auf der karte steht? das continental breakfast besteht aus chemiemarmelade und brot. na wenigstens brot. ach, ein camembert - doch vor dir liegt nur schmelzkäse, der mit der lachenden kuh, auf dem teller, jedenfalls im nahen osten.
und irgendwann musst du dich entscheiden, wie du weiterfährst. bustickets am ende der stadt organisieren. oder in aller hergottsfrühe am busbahnhof sein, weil fahrkarten nur am selben tag verkauft werden. dann fährst du ab, kommst stunden später woanders an, und das spiel geht von vorne los. -nbo
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was ist reisen? #3
tofo, 23.2.2005
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traveller glauben, die besseren reisenden zu sein. ihre ideologie ist die suche nach dem authentischen, die sie von touristen trenne, glauben sie. denn diese dickbäuchigen, rotgesichtigen zeitgenossen mit ihren sonnenhüten, tennissocken und khakihosen begnügten sich mit den vorverdauten und mundgerecht zubereiteten kulturhäppchen, die ihnen die reiseveranstalter vorsetzen.
und so wird kurzerhand jeder ort, jeder pfad, an dem die zahl der mzungu und faranji sprunghaft zunimmt, für verdorben erklärt. hier habe der tourismus authentische kulturen angefressen, ja zerstört, versichern sich die traveller und es klingt wie eine beschwörung.
es ist bestenfalls naivität, wahrscheinlich aber masslose ignoranz. die wohlmeinenden halten einen ort wie pangani an tansanias nordküste für authentischer als nungwi in sansibar, nur weil dort das geschäft mit den fremden noch nicht angekommen sei. aber die jungen checker und glücksritter der swahiliküste (nur ein beispiel für viele weltgegenden), sie sind genau so echt wie der dhau-käptn, der noch mangos und bananen mit dem wind verschifft.
auch sie sind das afrika von heute, und unsere enttäuschung über ihr gehabe und gequatsche entlarvt nur die grosse travellerillusion, es gebe noch andere, ja bessere, weil ursprünglichere zivilisationen, die dem von sich selbst entfremdeten westen etwas voraus hätten. mehr spiritualität, mehr gemeinschaftssinn, weniger materialismus. oder so. das ist lange vorbei. ob in indien, kambodscha oder tansania, der grosse traum, der alle eint, ist derselbe wie im westen: ein gutes leben ohne mangel und krankheit, in dem alles zur hand ist in dem augenblick, da man es sich wünscht. der traveller ist genauso wie der tourist ein willkommenes mittel, dieses leben schneller zu erreichen als durch jahrelangen pflügen, fischen oder anderweitiges schuften.
es ist absolut folgerichtig, dass niemand in der dritten welt einen unterschied zwischen traveller und tourist macht. der vermeintliche unterschied zwischen beiden reisendengruppen ist eine intellektuelle augenwischerei der westler.
die realität des reisens hingegen ähnelt eher der quantenmechanik: so wie in dieser der beobachter immer das messergebnis eines experiments in der welt der atome und elementarteilchen beeinflusst, kann auch der traveller nie nur reiner gast, stiller beobachter sein. wo immer er auftaucht mit seinem rucksack, den er für bescheideneres gepäck hält als die koffer der touristen, wird er zur attraktion, zur gelegenheit.
jeder "authentische" einheimische, der clever genug ist, wird sich sofort auf die gegenwart dieses mzungu einstellen und sich höchstens wundern, warum sich ein fremder in einen kaputten bus zwingt, in einem hotel mit dreckigen klos und kaputten duschen schläft. die vorstellung authentischer kulturen hat ihre wurzeln im zeitalter der entdecker und romantiker, als europäer zum ersten mal in für sie fremde weltgegenden vorstiessen und einige wohlmeinende patres den "edlen wilden" vor dem sündenfall entdeckt zu haben glaubten. der edle wilde wurde im kolonialismus schnell zum untermenschen, grund genug für alle antiimperialisten unter den travellern, den edlen wilden im fremden zu rehabilitieren.
was aber ist falsch daran, wenn diese "authentischen kulturen" sich genauso verändern wie wir westler, die wir begeistert sushi und thaicurries essen, im sommer mit sarongs oder lungis um die hüften unsere grossstadtstrände bevölkern oder zuhause buddhafiguren oder afrikanische masken in unsere wohnzimmer stellen? im 21. jahrhundert , in dem bob marley und beckham, hiphop und hotmail in jeden weltwinkel vordringen, sind wir alle touristen, sobald wir uns in die fremde begeben, um neue erfahrungen zu machen - und immer auch hoffen, weiter zu uns selbst vorzudringen, uns zu entspannen, loszulassen vom rat race des kapitalismus.
ob im verrosteten toyota-dala-dala in tansania oder im klimatisierten bus eines fünfsterne-ressorts auf bali, ist unerheblich. denn reisen entspringt immer auch einer gehörigen portion egoismus, die wir uns leisten, indem wir von zuhause verschwinden und eine lücke hinterlassen, zur selben zeit aber in der fremde anderen unsere gegenwart zumuten. -nbo
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